Das Hansaviertel in Berlin
Ein neues Stadtquartier für die Internationale Bauausstellung 1957
In den Fünfzigerjahren trägt die geteilte Stadt Berlin den Kalten Krieg auch auf dem Feld des Wohnungsbaus aus: Das Hansaviertel für die Interbau 1957 entsteht als Gegenentwurf. Und zwar auf die entlang der einstigen Stalinallee errichteten, monumentalen Wohnblocks im neoklassizistischen Stil.
Die Stalinallee im Osten von Berlin
Die Stadt in den 1950er Jahren: Nach dem Zweiten Weltkrieg ist Berlin zu großen Teilen zerstört. Der Westteil ist eine winzige Insel im kommunistischen Ostblock. Überall fehlt es an Wohnraum. Genau zu dieser Zeit gelingt dem SED-Regime im sowjetisch besetzten Osten der Stadt ein PR-Coup: Es verspricht die Stadt der Zukunft – mit modernem und erschwinglichem Wohnraum für alle.
An der Stalinallee in Friedrichshain entstehen in Windeseile Wohnblocks für Arbeiter. Und zwar nicht irgendwelche: Diese Bauten sehen genauso aus, wie sich viele Menschen fürstliche Paläste vorstellen. Außen mit klassizistischen Fassaden. Und im Inneren mit einer hochwertigen Ausstattung zum günstigen Mietpreis. Ganz klar: Diese komfortablen Wohnhäuser sollen auch die West-Berliner:innen vom Sieg des Sozialismus überzeugen.
West-Berlin muss darauf eine Antwort finden. Aber eine, die der Demokratie Ausdruck verleiht.
Die Antwort des Westens auf der Interbau 1957
Im Jahr 1953 veranstaltet die Stadt einen Ideenwettbewerb. Das Konzept der Architekten Willy Kreuer und Gerhard Jobst setzt sich durch: Häuser im Sinn des Neuen Bauens, locker im Stadtraum verteilt und mit viel Grün dazwischen. Ein Platz ist schnell gefunden: Das alte Hansaviertel ist komplett zerstört; hier können die Architekten ihre Ideen umsetzen.
Ausstellung der Superlative
Otto Bartning ist ein renommierter Baumeister und Präsident des Bundes Deutscher Architekten. Er lädt 53 Kollegen aus 13 Ländern ein, im Hansaviertel moderne Gebäude zu errichten. Die Resonanz ist enorm – Architekten aus aller Welt bauen in West-Berlin, darunter Größen wie Walter Gropius, Oscar Niemeyer und Alvar Aalto. Als im Jahr 1957 die Interbau 57 eröffnet wird, sieht das Publikum keine gewöhnliche Ausstellung: Die Besucher bewundern nicht Modelle oder Zeichnungen, sondern fertige Wohngebäude, sogar richtige Hochhäuser für den Sozialen Wohnungsbau.
Die Architekten bauen nicht mit Ziegeln wie in Ost-Berlin, sondern mit Stahlbeton. Bei den Fassaden orientieren sie sich an der Funktion der Gebäude und verzichten auf historisierende Verkleidungen. Und da sie in Hochhäusern mehr Wohnungen unterbringen können als in traditionellen Gebäuden, bleibt ausreichend Platz für Grünflächen.
Auch die Innenräume sind wohldurchdacht. Alvar Aalto entwickelt für seinen Bau (Klopstockstraße 30–32) den Allraum: Die Wohnungen haben keinen Flur, sondern einen großen Wohnraum, von dem Schlaf- und Kinderzimmer direkt abgehen. Aalto, aber auch Oscar Niemeyer, wollen das Zusammenleben der Hausbewohner fördern, sie planen Gemeinschaftsräume ein.
Das berühmteste Hochhaus des Hansaviertels ist die 17-geschossige „Giraffe“ (Klopstockstraße 2). Wie die großen Paarhufer im nahgelegenen Zoo überragt es alles andere. Der Entwurf zeigt, dass modernes Bauen nicht vor einem reaktionären Rollenverständnis gefeit ist. Die Giraffe besteht aus 1-Zimmer-Apartments. Die Architekten Klaus Müller-Rehm und Gerhard Siegmann entwerfen getrennte Trakte für Frauen und Männer. Während die Fraueneinheiten mit einer vollständigen Küche ausgestattet sind, finden sich in den Männer-Wohnungen nur Kochschränke. Diese tradierten Zuschreibungen sind schon 1957 überholt, und Frauen und Männer ziehen ungeachtet der Aufteilungen in die Wohnungen ein.
Im Hansaviertel entstehen aber nicht nur Hoch-, sondern auch Einfamilienhäuser und Atriumbungalows für private Bauherren. Besonders individuell gerät das Gebäude in der Händelallee 59: Mithilfe eines speziellen Aufwachfensters werden die Bewohner sanft vom Lichteinfall der Morgensonne geweckt.
Allerdings finden sich nicht genügend private Bauherren. Letztlich entstehen im Hansaviertel nur 36 statt der geplanten 45 Objekte. Einen der freien Plätze erhält am Hanseatenweg 10 die Akademie der Künste. Die Kongresshalle und Le Corbusiers Unité d’habitation realisieren die Architekten außerhalb des Hansaviertels.
Kleinstadt gegen Prachtstraße
Nicht nur in der Bauweise ist das Hansaviertel ein Gegenentwurf zur Stalinallee. Es funktioniert wie eine Kleinstadt. Hier gibt es nicht nur Wohnungen, sondern kleine Läden, ein Kino, ein Einkaufszentrum und einen eigenen U-Bahnhof. Die Hansabücherei im offenen Glasbau ist eine der ersten deutschen Bibliotheken mit Freihandbereich.
Und es gibt zwei neue Kirchen, die beide auf historistische Stilelemente verzichten: die evangelische Kaiser-Friedrich-Gedächtnis-Kirche und die katholische Pfarrkirche St. Ansgar.
Der Schaukampf kennt keinen Sieger
Als die Interbau 57 eröffnet, wird sie zum Besuchermagnet. Alle wollen die Musterwohnungen mit skandinavischen Möbeln, italienischen Stoffen und Bauhaus-Stahlrohrsesseln sehen. Insbesondere die Seilbahnfahrt über das Hansaviertel will sich keiner entgehen lassen.
Am Ende setzen sich weder die monumentalen Arbeiterpaläste an der Stalinallee noch die modernen Entwürfe des Hansaviertels durch. Für den preisorientierten Massenwohnungsbau sind beide schlicht zu teuer. Der Geldmangel sorgt daher für eine ungewollte Annäherung im Kalten Krieg: Neubausiedlungen in West- und Ostdeutschland werden sich bald sehr ähnlich sehen.
Unsere Tipps fürs Hansaviertel
Wer das Hansaviertel durchstreift, sollte die Akademie der Künste besuchen – nicht nur zum Eröffnungsfestival Bauhaus100. Direkt am U-Bahnhof Hansaplatz ist der Sitz des Grips-Theaters, das seit 1986 neben vielen anderen Stücken das Erfolgs-Musical „Linie 1“ aufführt. Fußläufig im Tiergarten, unweit der Siegessäule, befindet sich das Teehaus im Englischen Garten. Am U-Bahnhof Bellevue liegt die Konditorei Buchwald, in der seit 160 Jahren köstlicher Baumkuchen gebacken wird. Von der nahen Moabiter Brücke haben Sie eine gute Sicht auf das Industriedenkmal der ehemaligen Meierei C. Bolle und auf die von Karl Friedrich Schinkel entworfene St. Johanniskirche.
Umfassende Informationen zu den Bauten der Berliner Moderne und ihrer Geschichte finden Sie auf unserer Webseite:
Zur Architektur der Berliner Moderne
Grand Tour der Moderne
Zum 100-jährigen Bauhaus-Jubiläum im Jahr 2019 entwickelte der Bauhausverbund eine Grand Tour der Moderne, die Architekturfans durch ganz Deutschland führt. Das Hansaviertel ist Bestandteil dieser Themenroute.
Die weiteren Berliner Standorte als Grand Tour der Berliner Moderne:
Grand Tour der Berliner Moderne
Praktische Infos von visitBerlin
Mit der U-Bahn-Linie 9 vom Zoologischen Garten bis Hansaplatz erreichen Sie das Hansaviertel. Mit der S-Bahn gelangen Sie vom Zoologischen Garten oder von der Friedrichstraße über den S-Bahnhof Bellevue dorthin. Um die Stadt zu erkunden, empfehlen wir für den öffentlichen Nahverkehr die Berlin Welcome Card. Damit erhalten Sie für die Touren von art:berlin zum Beispiel einen Rabatt von 25 Prozent.
Eine Bitte in eigener Sache
Das Hansaviertel ist ein Gartendenkmal und durch die offene Bauweise begehbar. Gleichzeitig ist sie aber auch das Zuhause vieler Menschen, die hier wohnen und arbeiten. Diese pflegen das Denkmal und helfen, die Erinnerung zu bewahren.
Bitte berücksichtigen Sie dies bei Ihrer Besichtigung. Vielen Dank!