Die frühere Stalinallee in Berlin
Paläste für die Arbeiter im Sozialismus
Türme, Säulen und Paläste: Zwischen Frankfurter Tor und Strausberger Platz sieht die heutige Karl-Marx-Allee, ehemalige Stalinallee, wie ein russischer Prachtboulevard aus.
Versetzen Sie sich zurück in das Berlin Anfang der 1950er Jahre: Mehr als eine Trümmerwüste ist nach den Bomben des Zweiten Weltkrieges von der Großen Frankfurter Straße nicht übrig geblieben.
Die Menschen brauchen Wohnungen, aber es geht um weit mehr als das. Der Kalte Krieg hat Berlin im Griff, er teilt die Stadt in Ost und West. Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) will etwas beweisen: Die DDR soll den arbeitenden Massen mehr zu bieten haben als der kapitalistische Westen – keine einfachen Wohnungen, sondern richtige Paläste!
Und die neu errichteten Gebäude sind tatsächlich luxuriös: Statt Kälte, Enge und mangelnder Hygiene präsentieren sie Wohnungen mit einem Grundriss von bis zu 145 Quadratmetern, mit Fahrstühlen, Müllschluckern, Stuckdecken, Parkettböden, Doppelfenstern, Klingelanlagen, Warmwasserversorgung und Zentralheizung.
Aber die Häuser sollen nicht nur das Gefühl eines Palastes vermitteln, sie sollen auch repräsentativ sein und von der Überlegenheit des Sozialismus künden.
Vorzeigeprojekt der DDR
Zwischen Frankfurter Tor und Strausberger Platz entsteht entlang der seit 1949 in Stalinallee umbenannten Straße ab 1952 das erste große sozialistische Prestigeobjekt in Berlin. Die Magistrale wird ungewöhnlich breit angelegt. Das ist kein Zufall, denn die Straßen der Innenstadt müssen genügend Raum für Aufmärsche und Militärparaden bieten. Prototyp ist das 1951/52 fertiggestellte Hochhaus an der Weberwiese. Der Chefarchitekt der neuen Stalinallee, Hermann Henselmann, hat den Modellbau geschaffen. Innen gut ausgestattet und außen mit Schmuckfassaden.
Schinkel und der Klassizismus als Maßstab
Die Architekten orientieren sich am Vorbild des Sozialistischen Realismus und Sozialistischen Klassizismus der Sowjetunion. Die Kulturpolitik der UdSSR erklärt schon vor dem Zweiten Weltkrieg die sachlich-funktionale Architektur, wie sie für die russische Avantgarde charakteristisch war, für beendet. Schinkel und der Klassizismus des 19. Jahrhunderts haben für die DDR Vorbildcharakterr. Die in den 1930er Jahren entworfenen Wohnbauten des Architekten Arkadi Mordwinow in Moskau sind Maßstab für die Stalinallee. Kritiker:innen verspotten den Sozialistischen Klassizismus wegen seiner monumentalen Verzierungen als Zuckerbäckerstil.
Propaganda statt Integration
Am 3. Februar 1952 legt Ministerpräsident Otto Grotewohl den Grundstein und los geht‘s: Tausende Bauarbeiter, darunter zahlreiche freiwillige Aufbauhelfer, errichten aus Ziegelsteinen die ersten Gebäude der Stalinallee. Anfangs ist die Begeisterung groß. Viele hoffen, eine der begehrten Wohnungen zu ergattern. Die SED überlässt nichts dem Zufall: Zeitungen und Plakate feiern unentwegt die Bauten der Stalinallee. In Kino und Radio erfahren die Menschen seit November 1951 von den Aufbauplänen. Im Film „Die neue Wohnung“ und im Radio ertönt der „Aufbau-Walzer“:
Weit wie der Himmel, hell wie die Sonne schön / baun wir Häuser, schnell solln die Kräne sich drehn / Wir rufen: Hau ruck! Hau ruck! / Wir packen zu, und die Häuser erblühn / Hau ruck! Hau ruck! Für unser junges Berlin!
Die Propaganda kann die allgemeine Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen und politischen Lage in der DDR nur wenig überdecken. Allein im Jahr 1952 verlassen 182.000 Menschen das Land Richtung Westen. Auch der Tod Stalins am 5. März 1953 ändert zunächst wenig daran. Um den Aufbau der DDR zu beschleunigen, beschließt das SED-Politbüro im Mai 1953 eine Erhöhung der Arbeitsnormen um zehn Prozent. Diese Entscheidung bringt das Fass zum Überlaufen. Menschen protestieren im ganzen Land. Sie fordern nicht nur wirtschaftliche Verbesserungen, sondern auch freie Wahlen und ein Ende der SED-Herrschaft.
Der Volksaufstand
In Berlin erfahren die Arbeiter von Block 40 der Stalinallee am 16. Juni 1953, dass ihre Kollegen an der Großbaustelle Bettenhaus Friedrichshain eine Resolution gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen verfasst haben. Sie solidarisieren sich, legen die Arbeit nieder und ziehen die Stalinallee entlang. Schnell werden es 2.000 Werktätige. Als sie das Haus der Ministerien in der Leipziger Straße erreichen, ist die Menge auf 10.000 Menschen angeschwollen.
Der Rest ist Geschichte: Die Nachricht von der Demonstration verbreitet sich, die Proteste eskalieren am 17. Juni 1953. Die Machthaber reagieren hilflos und sowjetische Truppen schlagen den Volksaufstand nach wenigen Stunden mit Gewalt nieder.
Das Ende des Ornaments
Henselmann führt den Bau an der Stalinallee bis 1958 fort. Dann bahnt sich die Entstalinisierung auch in der Architektur ihren Weg. Das Stalin-Denkmal wird abgeräumt, die Allee erhält 1961 ihren heutigen Namen Karl-Marx-Allee. Der „Zuckerbäckerstil“ gilt als überholt. Für den zweiten Bauabschnitt zwischen Strausberger Platz und Alexanderplatz beschließen die Verantwortlichen einen Paradigmenwechsel in der Baupolitik. Kulturbauten wie das Kino Kosmos, das Kino International und das Café Moskau folgen einem sachlich-funktionalen Stil. Sein Kern ist die industrielle Vorproduktion auf Grundlage von Plattenbau- und Wohnbautypen.
Rost und Verfall
Die Wohnungen der ehemaligen Stalinallee bleiben begehrt, aber schon nach kurzer Zeit setzt der Verfall ein. Der Komfort lässt nach. Wasserleitungen verrosten, Fenster und Dächer werden undicht. Zu schnell und mit Material von minderer Qualität hochgezogen, hatten die Verantwortlichen versucht, einen Prachtboulevard zu erschaffen. Schon während der 1950er Jahre lösen sich die ersten Keramikfliesen von der Außenfassade. Bis zur Wende 1989 ist die Hälfte von ihnen abgefallen. Sie hinterlassen kahle Häuserwände, manche ersetzt die kommunale Wohnungsverwaltung durch provisorische Plastikelemente.
Ironie der Geschichte: Erst das Ende der DDR bremst den Verfall der Karl-Marx-Allee. Heute steht die Straße unter Denkmalschutz. Eine umfassende Sanierung der fast 2.600 Wohnungen erfolgt in den 1990er Jahren, hat aber ihren Preis: den Verkauf der einstigen Arbeiterpaläste an private Immobilienfonds.
Unsere Tipps für die Karl-Marx Allee (ehemalige Stalinallee)
Entlang des Boulevards vermitteln Info-Tafeln die Geschichte der Allee. Wer mehr erfahren möchte, schließt sich beispielsweise einer Thementour an. Zu einer ganz anderen Art der Geschichtsbetrachtung auf den Spuren des Homo ludens lädt das Computerspielemuseum (Karl-Marx-Allee 93a) mit seiner Zeitreise zum „spielenden Menschen“ ein.
Im Cafe Sibylle (Karl-Marx-Allee 72) werden Kaffee und Kuchen serviert. Hier erzählt eine Dauerausstellung von der Geschichte der 1953 eröffneten ehemaligen Milchtrinkhalle.
Umfassende Informationen zu den Bauten der Berliner Moderne und ihrer Geschichte finden Sie auf unserer Webseite:
Zur Architektur der Berliner Moderne
Grand Tour der Moderne
Zum 100-jährigen Bauhaus-Jubiläum im Jahr 2019 entwickelte der Bauhausverbund eine Grand Tour der Moderne, die Architekturfans durch ganz Deutschland führt. Die Stalinallee (heute Karl-Marx-Allee) ist Bestandteil dieser Themenroute.
Die weiteren Berliner Standorte als Grand Tour der Berliner Moderne:
Grand Tour der Berliner Moderne
Praktische Infos von visitBerlin
Die Karl-Max-Allee erreichen Sie vom Alexanderplatz am besten mit der U-Bahnlinie U5. Zwischen Schillingstraße und Frankfurter Tor gibt es viermal die Möglichkeit des Ausstiegs. Um die Stadt zu erkunden, empfehlen wir für den öffentlichen Nahverkehr die Berlin Welcome Card. Unser Tipp: sich Zeit nehmen und zu Fuß oder mit dem Fahrrad auf dem Zeitstrahl der Magistrale eintauchen.