
Warum machen wir das eigentlich? Warum fiebern wir jedes Jahr der Berlinale entgegen, standen früher stundenlang an für Tickets, sitzen jetzt morgens aufgeregt vor dem Rechner und hoffen, dass wir alle Tickets bekommen und verbringen dann den ganzen Tag im Dunkel des Kinosaales.
Natürlich wollen wir die Stars einmal live sehen, die wir sonst auf der Leinwand bewundern, und diese einmalige Festival-Atmosphäre genießen. Aber eigentlich machen wir das alles nur aus Liebe zum Film – in der Hoffnung, den einen ganz besonderen Film zu sehen. Dieser magische Moment treibt uns an, wenn wir uns in einem Film verlieren, von ihm mitgenommen werden und als ein anderer Mensch das Kino verlassen.
Am diesem Sonntag gab es viele dieser Momente mit märchenhaften Filmen und Filmen über Märchen.
La Tour de Glace
Magisch ging es auf jeden Fall im Wettbewerb zu, denn der französische Film La Tour de Glace erzählt das Märchen von der Schneekönigin neu. In den 1970ern reißt die junge Jeanne aus dem Heim aus und versteckt sich in einem scheinbar verlassenem Gebäude. Dies ist jedoch der Drehort einer Verfilmung der Schneekönigin, Jeannes Lieblingsmärchen. Fasziniert von der Hauptdarstellerin Christina (gespielt von Marion Cotillard) beginnt sie unter falschen Namen als Statistin am Set zu arbeiten. Während Jeanne versucht der geheimnisvollen divenhaften Christina näher zu kommen, verschwimmen die Grenzen zwischen Traum und Realität, Märchen und Film immer mehr.
Regisseurin Lucile Hadžihalilović schafft eine poetische Welt voller magischer Bilder, voller Anspielungen und Facetten, ein Film, der sich aus den bisherigen Beiträgen im Wettbewerb heraushebt - glitzernd schön und traumhaft verloren.
Den stygge stesøsteren
Dratsischer geht es Panorama zu, denn hier wird das Märchen zum Horrortrip. Der Film Den stygge stesøsteren erzählt die Geschichte vom Aschenputtel, das der Prinz nach dem Ball an seinem kleinen Schuh erkennt, neu. Er nimmt die Perspektive der Stiefschwester, der vermeintlich hässlichen und zurückgewiesenen ein. Elvira, die Stiefschwester, unterwirft sich einem brutalen Schönheitsprogramm, um die Hand des Prinzen zu gewinnen. Sie lässt sich die Nase brechen und künstliche Wimpern einnähen, schluckt sogar einen Bandwurm.
Der Film ist ein Body Horror Movie. Ähnlich wie der Oscarnominierte Film The Substance richtet sich der Blick in Den stygge stesøsteren auf den weiblichen Körper, der rigiden Normen entsprechen soll und dementsprechend zugerichtet wird. Wer schön sein will, muss leiden.
Regisseurin Emilie Blichfeldt bleibt aber dem märchenhaften Genre treu. Sie zaubert Bilder wie Stillleben, barocke Vanitas Mondi, sie vereint das Schöne und das Grausame. Zugleich spielt sie mit den bekannten Elementen früherer Neu-Erzählungen wie der Kürbis-Kutsche und dem Mäuschen und erzählt sie doch neu. Cinderella hat eine Affäre mit dem Stalljungen und der Prinz ist ein eitler Wominizer. Und doch - wie im Märchen - ist Elvira bereit, für ihn zum Äußersten zu gehen. Rucke di guh, Blut ist im Schuh.