Umspannwerk Humboldt
Die Ordensburg der „Elektropolis“
Was in Erich Kästners Roman noch scheitert, wird in Berlin Wirklichkeit: Eine Stadt voller Elektrizität.
In „Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee“ beschreibt Erich Kästner die Reise in eine sagenhafte Welt. Dort existiert die „Elektropolis“ – eine vollautomatische Stadt. Sie beeindruckt die Helden des Kästnerschen Romans, bricht dann aber in sich zusammen. Ganz anders in der Realität: Denn Berlin wird seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine echte elektrische Stadt, die niemals dunkel ist, in der Züge fahren und im Jahr 1938 fast alle Haushalte über elektrischen Strom verfügen.
Dies alles wäre undenkbar ohne mächtige Bauten wie das Umspannwerk Humboldt. Als eines der größten Elektrizitätswerke der Stadt ist es nicht nur funktional, sondern auch ein Industriedenkmal, das die Moderne mit historischen Elementen verbindet. Nicht zufällig ähnelt der Backsteinbau der Marienburg im heutigen Polen. Denn Architekt Hans Heinrich Müller ist ein bekannter Bewunderer dieser riesigen Festung des Mittelalters, des einstigen Hauptquartiers der Ritter des Deutschen Ordens.
Heute verarbeitet das Umspannwerk Humboldt keinen Strom mehr. Vielmehr ist es ein begehrter Bürokomplex in attraktiver Innenstadtlage.
Abspannung für Groß-Berlin
Seit dem Jahr 1920 braucht Berlin viel mehr Strom als zuvor, denn in diesem Jahr vereinigt sich die Stadt mit den bis dahin unabhängigen Nachbarorten, darunter Spandau, Charlottenburg, Neukölln und Lichtenberg. Am Rand dieses Groß-Berlins entstehen Kraftwerke, um die nun vier Millionen Einwohner der Reichshauptstadt zu versorgen. Aber weder Haushalte noch Betriebe können die Energie dieser Kraftwerke direkt nutzen, denn die dort erzeugte Stromspannung ist viel zu hoch. Ab- oder Umspannwerke sind die Lösung. In einem ersten Schritt reduzieren sie die Spannung von 30.000 auf 6.000 Volt.
Das Umspannwerk Humboldt entsteht zwischen 1924 und 1926 und ist eines der größten der Stadt. Sein Schöpfer ist der Leiter der Bauabteilung bei der Berliner Städtische Elektrizitätswerke AG (BEWAG), Hans Heinrich Müller. Müller entwirft auch zahlreiche andere Elektrizitätswerke, die bis heute das Berliner Stadtbild mitprägen, zum Beispiel
- das Abspannwerk Kottbusser Ufer
- das Abspannwerk Bergmannstraße
- das Abspannwerk Leibniz in Charlottenburg, das heutige Meta-Haus
- das Abspannwerk Scharnhorst
Doch Müller lässt nicht einfach nur Funktionsbauten errichten. Mit jedem seiner Bauwerke realisiert er eine individuelle architektonische Idee. So erhält das Abspannwerk Kottbusser Ufer rasch den Spitznamen „Kathedrale der Elektrizität“, denn Müller verleiht ihm das Aussehen einer Kirche im Stil der norddeutschen Backsteingotik.
Die Backsteinburg
Auch wenn das Umspannwerk Humboldt keinen Spitznamen trägt, ist das Vorbild hier noch eindeutiger. Müller lässt sich von der Marienburg im heute zu Polen gehörenden Malbork inspirieren, dem größten Backsteinbaus in Europa.
Backstein ist auch Müllers bevorzugter Baustoff. Dieses Material kommt seit dem 19. Jahrhundert bei zahlreichen Industriebauten zum Einsatz. Meistens tragen die Steine die Gebäude aber nicht mehr, sondern verkleiden nur noch die Stahlkonstruktionen, auf denen das eigentliche Gewicht der großen Fabriken, Werke und Hallen ruht. So auch bei anderen Entwürfen Müllers wie dem Abspannwerk am Kottbusser Ufer oder dem Abspannwerk Scharnhorst am Nordhafen.
Doch hier, am Umspannwerk Humboldt, baut Müller traditioneller. Auf dem Gelände können sie gleich vier mehrgeschossige Gebäude entdecken, die tatsächlich auf einer Mauerwerkstechnik beruhen:
- Transformatorenhaus
- Phasenschieberhalle
- Messwarte
- Wohnhaus
Nur unter dem Schalthaus verbirgt sich eine moderne Stahlkonstruktion. Die Klinker dienen allein der Verblendung. Ob Verblendung oder Mauerwerk – Müller hat die Fassaden des Umspannwerks glatt entworfen. Sein weitgehend einziges Gestaltungsmittel sind die Reihen mit hohen und sehr schmalen Fenstern. Ein bisschen erscheinen sie wie Schießscharten und verleihen der vermeintlichen Burg ein besonders grimmiges Aussehen.
Die versteckte Funktionalität
Trotz aller Anklänge an die Backsteingotik – Müllers Umspannwerk ist ein modernes Industriegebäude. Die Form ist der Funktionalität angepasst, auch wenn es der Betrachter nicht sofort bemerkt. Das Schalthaus am Spielplatz erscheint beispielsweise zwar wie eine Basilika mit hohem Mittel- und kleinerem Seitenschiff. Doch der wahre Grund für den Höhenunterschied ist, dass die dreistöckige 6-Kilovolt-Anlage des Schalthauses mehr Platz benötigt als die ebenfalls dort befindliche zweistöckige 30-Kilovolt-Anlage. Die parallel dazu, nördlich an der Kopenhagener Straße stehende Phasenschieberhalle hat links und rechts aufragende Kopfbauten – keine Festungstürme, sondern Platz für Verwaltungsräume, Werkswohnungen und Kondensatoren.
Hohe Tore mit Spitzbögen öffnen den Blick auf ein markantes, elliptisches Gebäude. Es steht im Zentrum der gesamten Anlage und auch diesen Aspekt hat Müller genau durchdacht. Das elliptische Gebäude beherbergt die Messwarte, also den Leitstand, von dem aus die Techniker alle Prozesse des Umspannwerk Humboldts steuern können. Zu diesen Prozessen gehören nicht zuletzt natürlich die Transformatoren, die im eigenen Transformatorenhaus die Abspannung vorantreiben.
Neue Verwendung für ein Industriedenkmal
Das Umspannwerk Humboldt übersteht wie die meisten Elektrizitätswerke Berlins den Zweiten Weltkrieg unbeschadet. Noch jahrzehntelang übernimmt es seine wichtige Aufgabe für die Infrastruktur im Osten der geteilten Stadt. Der Betrieb endet schließlich im Jahr 1993.
Dadurch stellt sich die Frage einer neuen Nutzung. Einige Jahre lang verwendet die BEWAG das Umspannwerk Humboldt als Verwaltungsgebäude. Zwischen 2000 und 2004 richtet das Vitra Design Museum aus Weil am Rhein hier Wechselausstellungen zu Architektur und Design aus. Im Jahr 2005 findet sogar ein Opernprojekt statt. Doch eine dauerhafte Kultureinrichtung entsteht im Umspannwerk Humboldt schließlich nicht. Im Jahr 2007 verkauft der BEWAG-Nachfolger Vattenfall das Gebäude und die Besitzer wechseln sich seitdem ab. Heute ist das Umspannwerk Humboldt ein Bürogebäude. Einziger Mieter der 12.000 Quadratmeter Arbeitsfläche ist die Buchungs-Webseite GetYourGuide.
Unsere Tipps rund um das ehemalige Umspannwerk Humboldt
Da es sich beim ehemaligen Umspannwerk Humboldt heute um ein vermietetes Bürogebäude handelt, können Sie es leider nicht von innen besichtigen. In Laufnähe locken aber zahlreiche spannende Aktivitäten, zum Beispiel der Mauerpark mit seinem berühmten Flohmarkt oder die Veranstaltungen in der KulturBrauerei sowie in der Max-Schmeling-Halle. Und was das leibliche Wohl und vielfältige Shopping-Möglichkeiten angeht, haben Sie hier im Prenzlauer Berg die Qual der Wahl.
Praktische Infos von visitBerlin
Fahren Sie für das Umspannwerk Humboldt am besten mit der S-Bahn bis zum Bahnhof Schönhauser Allee. Von dort sind es ca. 500 Meter zu Fuß bis zum Ziel in der Sonnenburger Straße 69-75.
Um die Stadt zu erkunden empfehlen wir für den öffentlichen Nahverkehr die Berlin WelcomeCard.