Wohnanlage Ritterstraße Nord
Rückzugsort im Großstadtdschungel Berlin
Erstmals seit der IBA 1957 findet in West-Berlin wieder eine internationale Bauausstellung statt mit neuen Ausrichtungen in der Stadtplanung.
Berlin in den Achtzigerjahren: Der Zeitgeist wandelt sich. In der Architektur steht nicht mehr das Modernitätsbestreben im Mittelpunkt, gekennzeichnet durch den Abriss von Altbauten und die Errichtung neuer Siedlungen am Stadtrand. Der städtebauliche Fokus liegt, auch durch Proteste von Teilen der Bevölkerung, auf einer Aufwertung der Innenstädte und einer Renaissance der Gründerzeithäuser – einerseits durch Sanierung und Entkernung von Altbauten, andererseits durch den Bau neuer Wohnanlagen.
Rückzug in der Stadt - IBA 1987
Solch eine Anlage entsteht ab 1981 in der südlichen Friedrichstadt. Heute zentral in der Innenstadt gelegen, befindet sich das Gelände durch die Teilung der Stadt zu diesem Zeitpunkt in der Nähe der Berliner Mauer.
Nachdem dort bereits namhafte Architekten wie Hans Kollhoff Wohnprojekte realisiert haben, übernimmt der luxemburgische Architekt Rob Krier die Aufgabe, die Wohnanlage Ritterstraße-Nord zwischen Linden- und Alter Jakobstraße zu planen. Krier hatte schon seit Ende der 1970er-Jahre den Abschnitt Ritterstraße-Süd gestaltet, doch dieser zweite Teil im Norden der Straße fällt mit insgesamt 315 Wohnungen in 35 Häusern deutlich größer aus. Die Anlage ist damit eines der größten ausgeführten Projekte der IBA 1987.
Kriers auffälligstes Gestaltungsmittel: die Anordnung von Blockrandbauten rings um Wohnhöfe, die nur über Torhäuser zu erreichen sind. Die Feilnerstraße bildet eine Mittelachse, um die sich vier Wohnblöcke gruppieren. Mit dieser abgeschlossenen Bauweise will der Architekt den Wohnraum „gegen die noch kaputte Umgebung vollkommen abgeschirmt“ halten. Trotz der Innenstadtlage soll es dadurch Möglichkeiten für Rückzug und Behaglichkeit geben.
Nahtloser Übergang
An den Einzelentwürfen der Häuser sind insgesamt sieben Architekturbüros beteiligt, unter den Architekten ist auch Axel Schultes, der später das Bundeskanzleramt entwirft. Gemeinsam erarbeiten die Büros das Siedlungskonzept und erschaffen individuelle und dennoch harmonisch aufeinander abgestimmte Bauten.
Der Stil der Anlage ist postmodern, das heißt auch, dass sich hier ein bunter Mix an Materialien und Formen findet. An der Ritterstraße und im Innenbereich sind die Fassaden hell verputzt, ein Kontrast zu den rotbraunen Ziegelfassaden, die zur Linden-, Oranien- und Alten Jakobstraße zeigen.
Teil der Ziegelbauten ist auch die ehemaligen Reichsschuldenverwaltung an der Ecke von Oranienstraße und Alte Jakobstraße, in der heute die Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung untergebracht ist. Das expressionistische Haus des Architekten German Bestelmeyer stammt aus der Weimarer Republik. Nach seiner Sanierung fügt es sich nahtlos in die Wohnanlage Ritterstraße-Nord ein, ganz im Sinne der IBA-Vorhaben zur Weiternutzung modernisierter Altbauten.
Das Spiel mit historischen Zitaten ist ein wichtiger Bestandteil postmoderner Architektur. Bestes Beispiel ist das von Rob Krier entworfene Feilnerhaus an der Feilnerstraße 4. Hier stand ein klassizistisches Wohngebäude von Karl Friedrich Schinkel, das im Zweiten Weltkrieg ausbrannte. Die Proportionen des Gebäudes und bauliche Details wie Gesimse und Fenstermaße erinnern an den Vorgängerbau. Historische Anleihen macht Krier auch bei den Arkadenbögen, welche die Ziegelsteinfassaden an der Feilnerstraße gliedern.
Platz für Plätze
Zentraler Punkt der Wohnanlage ist der von vier Torhäusern eingerahmte Schinkelplatz, eine quadratische Fläche mit 30 Metern Seitenlänge. Von hier sind alle Teile der Anlage zu erreichen, Durchgänge in den Ecken des Platzes führen in die vier großen Gartenhöfe. Jeder von ihnen folgt einem eigenen Gestaltungskonzept der Architekten Jasper Halfmann und Klaus Zillich. Im Nordwesten liegt der Pergolagarten, mit bepflanzten Säulengängen und einem Kinderspielplatz. Im nordöstlichen Hof gibt es kleine Mietergärten für die Bewohner der Erdgeschosswohnungen, hier sorgt eine weitere Pergola für Privatsphäre. Solche Säulengänge finden sich auch in den letzten beiden Hofgärten, dem „Zellgarten“ und dem „Gehirngarten“. Für letzteren ließen sich Halfmann und Zillich von einem Querschnitt durch das menschliche Gehirn inspirieren.
Die Umgebung der Wohnanlage, über die Rob Krier Anfang der Achtzigerjahre sprach, ist schon lange nicht mehr „kaputt“. Doch die Wohnhöfe schaffen weiterhin einen perfekten Rückzugsort für alle, die eine Pause vom Großstadtleben brauchen.
Grand Tour der Moderne
Zum 100-jährigen Bauhaus-Jubiläum im Jahr 2019 entwickelte der Bauhausverbund eine Grand Tour der Moderne, die Architekturfans durch ganz Deutschland führt. Die Wohnanlage ist Bestandteil dieser Themenroute.
Die weiteren Berliner Standorte als Grand Tour der Berliner Moderne:
Grand Tour der Berliner Moderne
Unsere Tipps rund um die Wohnanlage Ritterstraße
In Fußnähe, in der Friedrichstraße 43–45, befindet sich eine der beliebtesten Sehenswürdigkeiten Berlins: Checkpoint Charlie, der ehemalige Grenzübergang zwischen dem Ost- und Westteil der Stadt.
Wenn Sie der Lindenstraße zu Fuß nach Süden folgen, stoßen Sie auf das Jüdische Museum des Architekten Daniel Libeskind. Die dekonstruktivistische Architektur des Museums, des größten seiner Art in Europa, ist beeindruckend. Die Dauerausstellung wird derzeit modernisiert und ist ab 2020 wieder zugänglich. In der Alten Jakobstraße befindet sich auch die Berlinische Galerie mit Ausstellungen aus den Bereichen Bildende Kunst, Fotografie, Architektur und Grafik.
Bitte beachten Sie: Die Berlinische Galerie ist bis zum 25. Mai geschlossen. Das Beleuchtungssystem der Räume wird modernisiert.
Ein interessantes Beispiel brutalistischer („roher Beton“) Sakralarchitektur sehen Sie in der Alexandrinenstraße. Hier steht die Kirche St. Agnes aus den 1960er-Jahren.
Praktische Infos von visitBerlin
Die Wohnanlage Ritterstraße-Nord erreichen Sie mit der U-Bahn-Linie 6 bis Haltestelle Kochstraße.
Um die Stadt zu erkunden, empfehlen wir für den öffentlichen Nahverkehr die Berlin Welcome Card.
Eine Bitte in eigener Sache
Die Wohnanlage ist ein ausgewiesenes Flächendenkmal. Gleichzeitig ist sie aber auch das Zuhause vieler Menschen, die hier wohnen und arbeiten. Diese pflegen das Denkmal und helfen, die Erinnerung zu bewahren.
Bitte berücksichtigen Sie dies bei Ihrer Besichtigung. Vielen Dank!