Hochhaus an der Weberwiese
Prototyp der neuen Bauweise
Das Hochhaus an der Weberwiese ist mehr als ein Wohngebäude: Es ist der Stein gewordene Traum von der Überlegenheit des DDR-Sozialismus.
Als die Bauarbeiter und Handwerker am 1. September 1951 ihre Arbeit in der Marchlewskistraße 25 aufnehmen, liegt Berlin zu großen Teilen in Trümmern. Die Stadt und ganz Deutschland sind geteilt, der Kalte Krieg zwischen Ost und West hat begonnen.
Die Marchlewskistraße 25 an der Weberwiese ist eine herausragende Baustelle. In dem Ost-Berliner Stadtteil Friedrichshain beginnt die neugegründete DDR ihr „Nationales Aufbauprogramm“. Sie will nicht nur Wohnungen bauen. Sie will beweisen, dass sie ihrer Bevölkerung mehr zu bieten hat als der kapitalistische Westen.
Hier entstehen 3-Zimmer-Wohnungen mit geräumigem Grundriss, mit Einbauküche, Elektroherd und Zentralheizung. Telefone und Wechselsprechanlagen sind ebenfalls vorhanden, sogar eine Gemeinschaftsantenne für den Fernsehempfang. Die Ausstattung ist ihrer Zeit voraus, da es noch kein Fernsehprogramm gibt, von bezahlbaren TV-Geräten ganz zu schweigen. Alle Mieter haben Zugang zu einer Dachterrasse mit verglastem Aufbau.
Selbst von außen soll das Hochhaus Eindruck schinden. Fliesen aus Meißener Keramik – wenn auch nicht von der MEISSENER Porzellan-Manufaktur, wie jahrelang behauptet – verkleiden den Bau, den Arbeiter in traditioneller Form aus Ziegelsteinen errichten. Die Gebäudeecken ragen wie Türme hervor. Friese, Gesimse und Säulen verzieren das Bauwerk.
Trendwende in der Architektur
Der federführende Architekt hatte eigentlich anderes im Sinn. Hermann Henselmann, seit 1946 Direktor der Bauhaus-Hochschule in Weimar, entwirft vor der NS-Herrschaft moderne Wohnhäuser. Seine erste Skizze für das Hochhaus an der Weberwiese führt er 1951 noch sachlich-funktional aus. Doch dieser Stil ist nicht mehr angesagt.
Sowjetische Funktionäre kritisieren die Arbeiten ostdeutscher Architekten; das Neue Bauen erscheint ihnen dekadent und großbürgerlich. Stattdessen sollen sie sich an nationalen Traditionen orientieren. Moderne Entwicklungen in der Architektur wurden in der Sowjetunion bereits vor dem Zweiten Weltkrieg unterbunden. Die Bauwerke werden pompös und repräsentativ, der sozialistische Klassizismus setzt sich durch.
Kritik und Selbstkritik
Die DDR orientiert sich an ihrem Vorbild Sowjetunion. Staatschef Walter Ulbricht erklärt, er wolle in Berlin „keine amerikanischen Kästen und keinen hitlerischen Kasernenstil mehr sehen“. Rudolf Herrnstadt, Chefredakteur des Neuen Deutschland, prangert Henselmanns Entwurf für das Hochhaus an der Weberwiese in einem Artikel als verfehlt an.
Der Architekt findet schnell eine Lösung: Er übt öffentlich Selbstkritik, nachdem ihm seine Genossen und der Dramatiker Bertolt Brecht dazu geraten haben. Brecht, erzählt Henselmann später, habe ihm erklärt,
„dass das Bauen für Millionen von Menschen ausgehen muss von den ästhetischen [...] Vorstellungen dieser Millionen einfacher Menschen und nicht, dass ich etwa ihnen eine Kultur beibringe“.
Henselmann orientiert sich an den staatlichen Vorgaben und am Architekturstil von Karl Friedrich Schinkel. Sein neuer Entwurf stößt auf Zustimmung. Das zahlt sich für ihn auch persönlich aus: Als Chefarchitekt des Ost-Berliner Magistrats gestaltet Henselmann die Stalinallee, wie die heutige Karl-Marx-Allee von 1949 bis 1961 heißt. Sein Hochhaus an der Weberwiese wird zum Maßstab für die neuen Prachtbauten.
Kein Muster für den Großsiedlungsbau
Das Hochhaus soll so schnell wie möglich fertig werden. Die Bauarbeiten ziehen sich durch den Winter, jeden Tag wird rund um die Uhr gearbeitet, nachts mit Flutscheinwerfern. Zum Tag der Arbeit 1952 ziehen die ersten Mieter ein.
Das Vorzeigeprojekt steht – und die SED überlässt nichts dem Zufall. Nicht nur der Rundfunk berichtet darüber, mit einer Briefmarke und einem eigenen Lied feiert die DDR das Hochhaus an der Weberwiese.
„Es wächst in Berlin, in Berlin an der Spree
ein Riese aus Stein in der Stalinallee, ein Riese aus Stein in der Stalinallee
Es ist ja kein Luftschloss, das kann es nicht sein
Und wächst doch bis hoch in den Himmel hinein.“
Beim Richtfest setzt der spätere Staatschef Erich Honecker medienwirksam den letzten Stein ein. Das Hochhaus an der Weberwiese macht deutlich: Jeder soll am Wohlstand teilhaben. 30 der 33 neuen Wohnungen gehen an Arbeiterfamilien, in die übrigen ziehen die Familie eines Volkspolizisten, eines Lehrers und eines Architekten ein. Sie alle leben fortan in vergleichsweise luxuriösen Wohnungen. Und bezahlen eine sehr niedrige Miete von nur 90 Pfennig pro Quadratmeter.
Bei genauerem Hinsehen weist das Projekt einen entscheidenden Fehler auf: Der Bau jeder Wohnung in dem Hochhaus kostet neunmal so viel wie eine Durchschnittswohnung. Viel zu teuer, um als Modell für den Großsiedlungsbau zu dienen. Später, einige Jahre nach Stalins Tod, orientiert sich auch die DDR-Architektur an der internationalen Moderne und der industriellen Fertigung.
Durchzug für das richtige Raumklima
Viele Bewohner verbringen ihr ganzes Leben im Hochhaus an der Weberwiese. Nicht alles funktioniert perfekt. Der Fahrstuhl bleibt in den Anfangsjahren öfter stecken, die Zentralheizung lässt sich nur dadurch regulieren, dass man die Fenster öffnet. „Wir haben die Weberwiese mitgeheizt“, erinnert sich einer der Mieter.
Nach der Wiedervereinigung wird das Gebäude in den 1990er Jahren saniert, bis auf die Dachterrasse. Denn der Denkmalschutz lässt einen Umbau nach den neuen Sicherheitsbestimmungen nicht zu. Bis heute können die Bewohner sie nicht mehr nutzen.
Grand Tour der Moderne
Zum 100-jährigen Bauhaus-Jubiläum im Jahr 2019 entwickelte der Bauhausverbund eine Grand Tour der Moderne, die Architekturfans durch ganz Deutschland führt. Das Hochhaus an der Weberwiese ist Bestandteil dieser Themenroute.
Die weiteren Berliner Standorte als Grand Tour der Berliner Moderne:
Grand Tour der Berliner Moderne
Unsere Tipps rund um das Hochhaus an der Weberwiese
Nehmen Sie sich Zeit, erkunden Sie zu Fuß oder mit dem Fahrrad die Karl-Marx-Allee im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Info-Tafeln unterstützen Sie dabei. Wer mehr über die Hauptverkehrsstraße erfahren möchte, bucht eine Tour: Stadtführungen von art:Berlin, Ansichtssachen, TICKET B führen auf spannende Pfade der Berliner Baugeschichte.
Praktische Infos von visitBerlin
Die Karl-Marx-Allee erreichen Sie vom Alexanderplatz am besten mit der U-Bahnlinie U5 bis U-Bahnhof Weberwiese. Um die Stadt zu erkunden, empfehlen wir für den öffentlichen Nahverkehr die Berlin Welcome Card.