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Rio Reiser & das Rauch Haus: Das Bethanien wird besetzt

Starke Geschichten aus Berlin

Künstlerhaus Bethanien
© Künstlerhaus Bethanien, Foto: Georg Schroeder

Er war die Stimme einer Generation und Kultfigur des linken Widerstands. Seine Band „Ton Steine Scherben“ war die erste deutsche Rockband, die offen Systemkritik übte – und dies auch lebte. Der Rauch-Haus-Song wird in den 1970er Jahren zur Hymne der Hausbesetzer-Szene in allen größeren Städten Deutschlands – und zeigt: Mit Mut und Musik lassen sich Machtverhältnisse in Frage stellen. 

Es sind Stimmen wie die von Rio Reiser, die auch der nichtoffiziellen Seite Aufmerksamkeit verschaffen und dafür sorgen, dass neue Ideen angedacht und andere Modelle ausprobiert werden. Ob das Bethanien auch ohne den Einsatz und die Lieder von „Ton Steine Scherben“ und ihrem Sänger Rio Reiser heute ein öffentliches Kunstquartier wäre?

„Macht kaputt, was euch kaputt macht“

Die referenzierte Medienquelle fehlt und muss neu eingebettet werden.

„Unsere Musik ist aggressiv, weil junge Menschen, mit denen wir in Kontakt kommen möchten, erst einmal emotional bewegt werden müssen, ehe sie aufmerken. Andernfalls würden sie uns ja nicht einmal zuhören“, werden die „Scherben“ von Peter Winkler am 16. Februar 1971 in der B.Z. Berlin zitiert, nachdem sie - natürlich im Eigenverlag - die erste Single „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ veröffentlicht haben. Rio Reiser und seine „Scherben“ wollen sich nicht kaufen lassen, authentisch bleiben. Sie wollen zeigen, dass es Werte gibt, die jenseits von Kapitalismus und Gewinnstreben auch andere Möglichkeiten und Wege für die nächsten Generationen entstehen lassen.  

Damit sprechen sie vielen jungen Berliner*innen aus der Seele, Studierenden genauso wie den Jugendlichen, die Lehrberufe ausüben: Zuerst im Rahmen von Aktionen und Aufführungen der Theatergruppe um Rio Reiser, dann mit Politrock, oder Agitrock, wie die Scherben selbst ihren Musikstil bezeichnen. In ihren Texten, so die Band, würden sie einfach Gespräche aufschreiben, „die auf der Straße, in Kneipen oder am Arbeitsplatz real geführt wurden“, und damit die Probleme der jungen Menschen direkt ansprechen, statt diese zu verschleiern. Tatsächlich kommt es nach den Konzerten der Band oft zu Diskussionen – und immer öfter auch zu mehr.

„Der Mariannenplatz war blau, so viel Bullen waren da“

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Die Jugendlichen wollen gehört werden, organisieren sich, gehen auf die Straße. Im Dezember 1971 versammeln sich 300 Demonstranten auf dem Berliner Mariannenplatz. Es kommt zu Ausschreitungen. Die Jugendlichen werfen mit Steinen, die Polizei packt Schlagstöcke und Tränengas aus, wobei beide Gruppen abstreiten, als erste gewalttätig geworden zu sein. 

Immerhin: Schon am Tag darauf wird nicht mehr geprügelt, sondern diskutiert: Jugend-Stadtrat Erwin Beck spricht vor Ort mit den Besetzern und Demonstranten. Diese fordern eine Alternative zu den nicht funktionierenden Jugendheimen, ein selbstverwaltetes Haus und finanzielle Unterstützung für die „Trebegänger, die im ehemaligen Bethanien-Krankenhaus Unterkunft finden sollen. Da der Stadtrat nur eine Etage für den „Modellversuch“ zur Verfügung stellen will, die Jugendlichen aber eine ganze Etage fordern, gestalten sich die Verhandlungen schwierig.

„Ihr kriegt uns hier nicht raus. Das ist unser Haus.“

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Das Bethanien, oder auch „Rauch-Haus“ wird weiter besetzt. Zum ersten Mal ist bei einem Teach-in zum Tod von Georg von Rauch in der TU Berlin zur Besetzung aufgerufen worden. Von Rauch, der in der Studentenbewegung der 1960er Jahre aktiv gewesen und sich als radikaler Anarchist mit der „Wielandkommune“ einen Namen gemacht hatte, war am 4. Dezember 1971 in einer Auseinandersetzung mit der Polizei erschossen und damit zum Märtyrer der linken Szene geworden. Als das Bethanien am 19. April 1972 geräumt wird, widmet Rio Reiser ihm seinen Rauch-Haus-Song.

Die Jugendlichen müssen zwar ausziehen, dafür beginnen auch andere Gruppen in der Stadt beginnen sich für den Erhalt des Bethaniens einzusetzen. Mit seinen Protesten gegen die Abrisspläne erreicht der Bund Deutscher Architekten, dass das Gebäude unter Denkmalschutz gestellt wird.

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1973 setzen sich Künstlergruppen und der Berufsverband Bildender Künstler Berlin für das Bethanien als Zentrum für Kultur und Soziales ein. Das Künstlerhaus Bethanien eröffnet. 2010 zieht diese Initiative in die Kohlfurter Straße in Kreuzberg um, doch das Bethanien bleibt ein Treffpunkt und Zentrum für Kunst, Kultur und sozialpolitischen Austausch. Aktuell sind rund zwei Dutzend soziale und kulturelle Initiativen aktiv, darunter der Kunstraum Kreuzberg/Bethanien mit seinen Ausstellungsräumen.

Rio Reiser und seine Scherben ziehen nach Fresenhagen in die Nähe der dänischen Grenze. Dort auf dem Land lebt die Band weiter als Kommune zusammen, und widmet sich in Songtexten und Theaterstücken nun weniger den Politparolen der Anfangszeit, sondern mehr privaten, persönlichen Themen. 

Die Geschichte des Bethaniens

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  • Die Geschichte des Bethaniens selbst geht bis ins Jahr 1845 zurück. Gestiftet von König Friedrich Wilhelm IV, dem „Romantiker auf Preußens Thron“, wird es Diakonieanstalt mit 500 Betten, einer Ausbildungsstätte für Krankenpflegerinnen und einem angegliederten Waisenhaus geplant. Im 19. Jahrhundert liegt das Bethanien an der Stadtgrenze, umgeben von Gärten und Roggenfeldern. 50 Jahre später schon liegt es inmitten der Stadt, die mittlerweile von 365.000 auf 1,7 Millionen Einwohner angewachsen ist.
  • Während der Zeit des Nationalsozialismus stellt sich die Leitung des Hauses gegen die Forderung, Führungspositionen m Haus Parteigenossen zu überlassen. 1941 wird das Seminarhaus beschlagnahmt. 
  • 1848/49 arbeitete Theodor Fontane in der Apotheke des Krankenhaus Bethanien. Diese könnt ihr heute noch besichtigen.
  • Zwischen 1950 und 1951 wird der während der alliierten Luftangriffe zerbombte Südflügel erneuert, doch im Zuge des Mauerbaus verlagert sich der Standort des Krankenhauses direkt an die Sektorengrenze, verliert viele Patienten aus dem Ostteil der Stadt und ist ab 1966 zahlungsunfähig.

 

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Quellen: 
archiv.squat.net/rauchhaus/index.html
Wünsch, Silke: „König von Deutschland: Warum Rio Reiser eine deutsche Ikone ist“, Deutsche Welle, 8. Januar 2020
dw.com/de/könig-von-deutchland-warum-rio-reiser-eine-deutsche-ikone-ist/a-5193123

Josefine Köhn-Haskins

Josefine

ist in München aufgewachsen, hat dort studiert und bei der SZ volontiert. Bevor sie in Berlin ihr Zuhause fand, berichtete sie als Korrespondentin und Trendscout aus den USA. Heute ist sie kreuz und quer in Berlins Kiezen unterwegs und beschäftigt sich mit Kultur, Musik und Zukunftsideen für ein innovatives Berlin. Alle Beiträge